Menschen mit Intelligenzminderung und psychischer Störung

Qualitative Studie zur Überwindung von Spannungsfeldern zwischen Familie, Heim und Psychiatrie

Autorin: Meike Wehmeyer

Abstract: Die Lebenswelt von Menschen mit Intelligenzminderungen (IM) ist aufgrund kognitiver, sprach­licher und emotionaler Ent­wick­lungs­störungen oft durch zahlreiche Behinde­run­gen und Barrieren gekenn­zeichnet. Für Personen mit IM ist das Risiko, im Lauf ihres Lebens eine psychische Störung zu entwickeln, im Ver­gleich zur Allge­mein­bevölkerung um ein Drei- bis Vierfaches erhöht. Mindestens jeder fünfte Betroffene weist eine psychische Störung auf, die Häufigkeit bedeut­samer Verhaltens­störungen wird mit bis zu 40% ange­geben. Insbesondere aggressive Verhaltensstörungen führen vermehrt zu stationär-psychiatrischen Einweisungen und erschweren die gleichberechtigte Teil­habe am Leben in der Gesellschaft.

Zwischen 2014 und 2018 wurde das Praxis­forschungs­projekt „SYMPA-GB: Systemtherapeutische Methoden in der psychiatrischen Akut­versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung“ durchgeführt. Die daraus hervorgegangene Dissertationsstudie zielte darauf ab, die Koopera­tionen von Erwachsenen mit IM und psychischer Störung innerhalb ihres Multi-Helfer­systems zu ana­ly­sieren: Spannungs­felder im Zusam­men­wirken der Beteiligten aufzudecken, Handlungswissen zu ermitteln, mit dem aggressiv-eskalierende Interaktionen bewältigt oder ver­hindert werden und Zusammenhänge zu sys­te­mischen Theorien und Praktiken herzustellen.

Im Rahmen eines qualitativen Ansatzes wurden problemzentrierte Leitfaden-Interviews mit Betroffenen sowie deren Helfern aus den Bereichen Familie, gesetzliche Betreu­ung, Heim sowie ambulante und stationäre Psychiatrie durchgeführt, viermalig innerhalb von 2,5 Jahren, insgesamt 188 Interviews. Es nahmen 67 Personen an der Studie teil, davon 14 Personen mit IM unterschiedlichen Schweregrades. Eine strukturierende Inhaltsanalyse ergab ein mehrstufiges Kategorien­system, bestehend aus 43 Strategien für ein gelingendes, konfliktarmes Mit­einander von Personen mit IM und deren Helfern inkl. 13 Strategien zur akuten Krisenintervention. Die Strategiesammlung erreichte eine sehr gute Inter-Raterreliabilität, differenzierte Analysen zur Gültigkeit ergaben eine ebenfalls hohe Validität.

Einige Strategien konnten mit systemischen Denk- und Handlungs­ansätzen verknüpft werden. Dazu gehörten die Akzeptanz subjektiver Wirklichkeiten und differierender System-Welten, die Sinnhaftigkeit von Problemverhalten, das Klären und Ver­han­deln von Anliegen, die selbstreflexive Haltung im Hinblick auf Wechsel­wirkungen, die Fokussierung auf Ressourcen und Stärken sowie die Einstellung, zwischen allen Beteiligten für Transparenz, Mitbestimmung und einen wert­schätzen­den Austausch von Expertise zu sorgen. Die Strategiesammlung wurde unter dem Titel „SMILE: Systemisch-inspirierte Methoden für die Interaktion und Lösung von Eskalationsmustern“ publiziert.

Die Autorin: Dr. sc. hum. Maike Wehmeyer ist Dipl. Psychologin, staatl. geprüfte Logopädin, systemische Therapeutin und systemische Supervisorin. Sie wirkte in den Bereichen Erwachsenenpsychiatrie, Forschung, Lehre, Familienberatung, ambulante und stationäre NeuroRehabilitation.
Aktuell arbeitet sie als Psychologin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie (Zentrum für Autismus und Störungen der sprachlichen und geistigen Entwicklung), Lehrbeauftragte für Psychologie, Psychiatrie, Achtsamkeit und Supervision (Fachakademie für Heilpädagogik) sowie in freiberuflicher Praxistätigkeit.

Der Beitrag wurde zuerst auf der Open Access-Plattform der Universität Heidelberg (heiDOK) im Jahres 2020 veröffentlicht (DOI: 10.11588/heidok.00028297)