1. Fallbeispiel: Herr Müller

Herr Müller ist ein im Kontakt offener 34-jähriger Mann, der auf Empfehlung des Sozialdienstes der örtlichen psychiatrischen Klinik zur Erstberatung ins Berufliche Trainingszentrum (BTZ) kam. Im Anschluss an die einstündige Beratung wurde ein Protokoll mit Herrn Müller abgestimmt und verfasst. Das Protokoll enthält Aussagen zu seinem beruflichen Werdegang, seiner gesundheitlichen und psychosozialen Situation, seinen Zielen, den Empfehlungen des BTZ und die Vereinbarungen, die mit Herrn Müller getroffen wurden. Das Original des Protokolls nimmt Herr Müller direkt im Anschluss an die Erstberatung mit.

Zu seinem beruflichen Werdegang

Herr Müller schloss in seiner Heimatstadt Heilbronn eine Ausbildung als Tischler ab, da sein Onkel eine Tischlerei betrieb, die er übernehmen sollte. Herr Müller wollte dies nicht und arbeitete dort nur ein Jahr. In den nächsten sechs Jahren war er in drei anderen Tischlereien und einem Baustoffmarkt für jeweils ein Jahr tätig. Aufgrund eines Wirbelsäulenleidens schulte er im Anschluss zum Industriekaufmann um. Jedoch fand er trotz gutem Abschluss und vielen Bemühungen keine Stelle. Nunmehr 28-jährig wollte er in einer Großstadt leben. Die Wahl fiel auf Köln, wo er, mangels kaufmännischer Angebote, eine Stelle als Küchenverkäufer in einem Möbelgroßhandel inne hatte. Dort konnte er seine schreinerischen und kaufmännischen Kenntnisse nutzen. Obwohl Herr Müller eine kontaktfreudige Person ist, belastete ihn schließlich gerade der Kundenverkehr, der einen wichtigen Teil seiner Arbeit ausmachte.

Zur gesundheitlichen und psychosozialen Situation

Die bipolare Erkrankung mit manischen Phasen kam für ihn aus heiterem Himmel. Herr Müller kündigte seine Stelle und ist seither arbeitslos bzw. krank. Er bemühte sich gar nicht mehr um andere Stellen, da er sich seither psychisch zu instabil fühlte. In einer Krise suchte er einen Facharzt auf, wurde zwangseingewiesen und zweimal für mehrere Wochen stationär behandelt. Eine freiwillige Behandlung in einer Tagesklinik schloss sich im Folgejahr an. Im Anschluss nahm er ein weiteres Jahr an einer Gesprächstherapie teil und befindet sich bis heute in fachärztlicher Behandlung. Er vertraut vor allem den Medikamenten, die seine affektiven Schwankungen abmildern und insgesamt eine Besserung brachten. Für seine Krankheit findet er bis heute keine Erklärung. Herr Müller hat noch guten Kontakt zu seiner Familie in Heilbronn. Die Tischlerei des Onkels wurde inzwischen verkauft. Er lebt und versorgt sich alleine und hat einen Freundeskreis in Köln gefunden.

Zu seinen Zielen

Er traut sich keine Arbeitsstelle zu, hat jedoch das Ziel, schrittweise wieder im Arbeitsleben Fuß zu fassen, am ehesten im kaufmännischen Bereich als Teilzeitkraft. Seine Kenntnisse als Schreiner, immerhin über zehn Jahre gesammelt, ist er bereit, einzubringen. Er äußert Ängste, arbeitslos zu bleiben. Deshalb benötigt er eine intensive Unterstützung bei der Stellensuche und Vermittlung sowie eine gute Begleitung. Er möchte zunächst seine Belastungsfähigkeit erproben und Grundarbeitsfähigkeiten aufbauen – in der Hoffnung, sein Selbstvertrauen wiederzufinden.

Empfehlung des BTZ

Das BTZ unterstützt Herrn Müllers Plan. Vorbehaltlich der Kostenzusage und eines weiteren Gespräches im kaufmännischen Bereich, kann das BTZ ein berufliches Trainingsangebot machen, mit dem Ziel der anschließenden Stellenaufnahme auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Es ist dabei abzuklären, in welcher Weise Herr Müller auf vergangenen Berufserfahrungen aufbauen und welche tragfähigen Rahmenbedingungen einer zukünftigen Stelle er für sich erarbeiten kann. Dies wird bei den im BTZ-Training vorgesehenen Praktika und der gemeinsamen Suche und Vorbereitung auf eine Stelle ausschlaggebend sein. In manischen Phasen neigt er dazu, zu viel Geld auszugeben. Daher wird empfohlen, die Frage eines gesetzlichen Betreuers zu erörtern, um seine finanzielle Situation besser in den Griff zu bekommen und keine Lohnpfändung beim zukünftigen Arbeitgeber befürchten zu müssen.

Vereinbarung mit Herrn Müller

Herr Müller trifft mit dem BTZ folgende Vereinbarungen:

Herr Müller wird einen Termin für ein Gespräch im kaufmännischen Trainingsbereich des BTZ erhalten und danach entscheiden, ob er das Angebot annehmen kann. Er wird umgehend einen Antrag auf berufliche Rehabilitation stellen. Diesem Antrag wird er eine Kopie des Gesprächsprotokolls sowie eine Stellungnahme seines Facharztes beilegen und auf eine dann folgende Beratung durch den Rehabilitationsträger warten.

Mit seinem Facharzt wird Herr Müller dieses Ergebnis sowie die Frage eines gesetzlichen Betreuers besprechen. Zur Vorbereitung auf das Berufliche Training, das mit einer Halbtagstätigkeit beginnt, wird Herr Müller sich an eine Praxis für Ergotherapie wenden und sich informieren, ob er dort seine Grundarbeitsfähigkeiten aufbauen kann. Er bittet ggf. seinen behandelnden Arzt um eine entsprechende Verordnung.

Herr Müller wird das BTZ nach vier Wochen informieren, wie dieser Plan sich umsetzen lässt und, wenn nötig, eine weitere Beratung in Anspruch nehmen. Herr Müller erhält das Original des Protokolls mit den oben genannten Vereinbarungen. Es wird mit ihm beraten und entschieden, wer eine Kopie des Protokolls erhalten soll, die er selbst überreicht an:

  • seinen Facharzt,
  • die Reha-Abteilung der Arbeitsagentur,
  • die ergotherapeutische Praxis.

In der Folge der Erstberatung entschied sich Herr Müller für ein Training im BTZ. Zur Vorbereitung sucht er eine ergotherapeutische Praxis auf mit dem Schwerpunkt der Belastungserprobung.

Training im BTZ

Herr Müller begann das Berufliche Training im BTZ mit guter Motivation und konnte auch die Orientierungsphase mit einer Arbeitszeit von vier Stunden pro Tag gut erfüllen. Mit Steigerung der Arbeitszeit und der berufsspezifischen Anforderungen in der Qualifizierungsphase stellten sich jedoch erhebliche Schwankungen der Pünktlichkeit und Selbstorganisation ein. Gehäufte Krankschreibungen signalisierten seine Belastungsgrenze. Es konnte ein Zusammenhang festgestellt werden zwischen unregelmäßiger Einnahme der Medikamente und einem bisher unentdeckten Alkoholproblem. Im fünften Monat des Trainings kam es zu einer krisenhafter Zuspitzung und der Notwendigkeit einer stationären Behandlung mit Unterbrechung des beruflichen Trainings.

Während der stationären Behandlung wurde die Frage der Medikation und des Alkoholproblems offensiv bearbeitet und mit psychoedukativen Gesprächen Verständnis für die Zusammenhänge zwischen der bipolaren Erkrankung und dem Alkohol-Abusus erreicht. In der stationären und anschließenden teilstationären Arbeitstherapie konnte Herr Müller seine Grundarbeitsfähigkeiten wieder aufbauen. Das berufliche Training im BTZ konnte wieder aufgenommen werden. Im weiteren Verlauf gelang eine berufsspezifische Auffrischung und Qualifizierung im kaufmännischen Bereich, einschließlich eines Praktikums in einem kleinen Unternehmen.

Ein weiteres Praktikum in einem Möbelversandgeschäft führte dort zu einer Arbeitsstelle. Nach dieser intensiven Unterstützung bei der Stellensuche mit erfolgreicher Vermittlung bot das BTZ Herrn Müller zusätzlich eine sechsmonatige Begleitung in der Startphase am Arbeitsplatz an. Gefördert wurde der berufliche Einstieg durch Eingliederungszuschüsse der Agentur für Arbeit. Für die langfristige Sicherung des Arbeitsplatzes wurde bereits frühzeitig Kontakt mit dem Integrationsfachdienst (IFD) aufgenommen. Herr Müller war zuerst wenig motiviert, sich auf eine neue Betreuung einzustellen, konnte jedoch den Sinn der langfristigen Sicherung der Arbeit verstehen und vor allem im Hinblick auf zukünftige, krankheitsbedingte Krisen und eine mögliche Gefährdung des Arbeitsplatzes akzeptieren, dass ein Schwerbehindertenausweis beantragt wurde, der einen Kündigungsschutz gewährleistete.

Herr Müller ist nun seit mehr als einem Jahr in der Firma beschäftigt und konnte eine erneute depressive Krise durch ambulante Behandlung rechtzeitig abfangen.