Aushandlungs(t)räume in der Psychiatrie
Eine qualitative Analyse von Visiten-Gesprächen im allgemeinpsychiatrischen Setting
Autorin: Jessica Vanessa Krebs
Abstract: In der Psychiatrie treffen diverse Akteure zum Zwecke der Krankheitsbearbeitung aufeinander, deren Krankheitssichten, behandlungsbezogene Ziele und Erwartungen auseinanderfallen können. Nicht aufgelöste Diskrepanzen sind mit problematischen Phänomenen verbunden, die Belastungen für alle Beteiligten darstellen, weshalb deren Überwindung anzustreben ist. Integrative Krankheitsverständnisse und partnerschaftliche Aushandlungsmodelle gelten als state of the art – doch welche Ausgestaltung findet sich im stationär-psychiatrischen Alltag? Mit einem qualitativen Forschungsdesign wird der Frage nachgegangen, was Strukturmerkmale eines Visiten-Gesprächs in der Allgemeinpsychiatrie als zentrale Kommunikations-und Interaktionssituation sind und wie Aushandlung in diesem Rahmen realisiert wird. Mittels Rahmen-und (mikro-)sprachlicher Analyse werden Daten aufbereitet, die im Zuge nichtteilnehmender Beobachtung generiert wurden, um die soziale Praktik des Aushandelns in ihrer Gesamtkomplexität aufzuschlüsseln. Es zeigt sich, dass Visiten-Gespräche einen stark formalisierten Charakter aufweisen und sich sowohl ergebnisfestgelegte als auch -offene Aushandlungsräume finden, die mit spezifischen Aushandlungsthemen korrespondieren. Während die Deutungs-und Entscheidungshoheit im Falle der Ergebnisoffenheit den Patienten obliegt, liegt diese im Falle der Ergebnisfestgelegtheit bei den Fachkräften, womit belegt wäre, dass Psychiatrie kein macht-und herrschaftsfreier Raum ist. Der Schluss liegt nahe, dass es in Anbetracht der Ergebnisfestgelegtheit für Patienten bei Aushandlungsträumen bleibt und sich Aushandlungsräume allenfalls themenspezifisch im Falle der Ergebnisoffenheit ergeben. Dieser trifft zu; sofern lediglich die Entscheidungsfindung betrachtet wird. Mit Blick auf den gesamten Aushandlungsprozess zeichnet sich ein diskussionswürdiges Paradoxon ab: Während sich Patienten in ergebnisfestgelegten Aushandlungsräumen rebellisch präsentieren, demonstrieren andere in ergebnisoffenen Aushandlungsräumen Folgsamkeit.
Auorin: Jessica Krebs ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Evangelischen Hochschule Freiburg und lehrt im Fachbereich Soziale Arbeit Theorien sowie professionelles Handeln, sozialpsychiatrische Themen und qualitativen Forschungsmethoden. Im Rahmen des Promotionsvorhabens befasst sich die Autorin mit der Offenlegung von Suizidalität im sozialen Netzwerk von Betroffenen. Die Autorin verfügt über mehrjährige, praktische Erfahrungen als Mitarbeiterin im Sozialdienst einer psychiatrischen Klinik.